Raymond Thelen

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Seiten. Zum primären visuellen Eindruck der hoch aufragenden, schlanken
Vertikal-Formen der Stelen gesellt sich der olfaktorische Aspekt des sich
im Raum verstreuenden Weihrauchdufts, dem nicht nur
einereinigende, sondern auch eine bewusstseinserweiternde Wirkung
nachgesagt wird. Die in Dunkelheit getauchte, vermeintlich okkulte
Atmosphäre der Installation evoziert bei den meisten Betrachtern
unmittelbar ein Gefühl der „Mystik pur als intuitives körperliches
Wissen“. Die Zahl 22 der Lehm-Stelen verweist auf die menschlichen
Bewusstseinsstufen. So gibt es z. B. 22 Trumpfkarten im Tarot, die die
Stufen eines Initiationsweges markieren. Sie beschreiben den Aufstieg
zum göttlichen Geheimnis und zur menschlichen Reife, den Übergang zur
Vollkommenheit. 22 ist auch die Anzahl der Buchstaben des hebräischen
Alphabets. Die Anordnung der 22 Stelen im Raum folgt dem Kreuz der
gefiederten Schlange, Quetzalcoatl, der obersten Gottheit der Maya, so
wie sie im Mythos des Popul Vuh, der Maya-Schöpfungs-geschichte
erzählt wird. Von oben ist die Form des pythagoreischen Pentagramms,
des Magen Dawid (Davidstern) und des russisch-orthodoxen Kreuzes zu
erkennen, Verweis auf die unterschiedlichen Religionsmythen.
Tempel des Ich

Raymond Thelen zeigte die Installation
Tempel des Ich erstmalig in der Ausstellung
dielektrikum vom 19. November bis 10. De-
zember 2005 in der Düsseldorfer Produzenten-
galerie plan.d. Die Installation erstreckt sich
über zwei Räume: Der erste Raum birgt ein in
dunkles Licht getauchtes Labyrinth, in dem der
Betrachter seinen Weg zum zweiten Raum finden
muss. Nicht als Irrgarten oder gar wie bei Vergil
als Zeichen der Unterwelt versteht sich dieses
Labyrinth, sondern vielmehr als Metapher für eine
unerwartete Situation, die den Besucher am Ende
des Weges erwartet. Durch die Dunkelheit zur
Vorsicht gemahnt, verstärkt durch den unbekannten
Weg und der Stille des Labyrinths setzt sich bei
dem Durchschreitenden ein Prozess der Konzentration in Gang.
Am Ziel des Labyrinths angelangt muss eine von einem Tuch verhangene Türöffnung gelüftet werden, hinter der man zunächst 22 in dämmeriges Licht getauchte überlebensgroße, filigrane Stelen aus schwarzem Lehm erblickt. Einige der Stelen erstrahlen von innen heraus, anderen ist ein Leuchten in der Spitze eingelassen, das nach oben, gen Himmel ausgerichtet ist, wieder andere tragen ein Licht an ihren

Beim näheren Betrachten der begehbaren Installation fällt ein ebenfalls aus schwarzem Lehm gefertigter Altar in der vordersten Reihe ins Auge. Seitlich flankieren zwei Stelen den Opfertisch. In die eine Stele ist eine Sonne, in die andere ein Mond eingelassen, seit der Antike Symbole für die Gegensatzpaare Tag und Nacht, Hell und Dunkel, Mann und Frau, Himmel und Erde, Gott und Mensch. In der hintersten Reihe der Installation ist eine Vertiefung in der Form eines griechischen Kreuzes in den Boden eingelassen und mit einem marmorierten Gemisch aus dunklem und hellem Lehm gefüllt. Im Schnittpunkt der beiden Kreuzschenkel schwimmt auf einer transparenten Flüssigkeit ein weiteres Öllicht. Das Kreuz, das in den verschiedensten Kulturkreisen bekannt ist, beinhaltet die Synthese zweier diametral entgegen gesetzter Extreme. So versinnbildlicht das Kreuz schon lange vor seiner Verwendung im christlichen Kontext die Position der Vermittlung.

Die sakrale Aura der Installation entsteht durch die Verwendung eines ursprünglichen und seit Jahrtausenden genutzten, natürlichen Materials, dem schwarzen Lehm. Der in unseren Breiten selten vorkommende Ton, der bei okkulten Stätten von Naturvölkern, z. B. in Südamerika, Verwendung fand, wurde für diese Installation eigens aus der Tiefe der Erde an die Oberfläche gefördert. Der Zylinder, der bei diesem Vorgang in die Erde getrieben wurde, ist im Umkehrschluss als hoch aufragende Stele zu sehen und symbolisiert das ans Licht beförderte Verborgene. Das Material ist Träger von Kräften und Energien der Natur und löst beim Betrachter unterschiedlichste Assoziationen und Stimmungen aus. Im ersten Augenblick vermeintlich an Natur- und Kulturreligionen erinnernd ist die ganze Spannbreite der Auseinandersetzung des Individuums mit sich und seiner Umwelt angesprochen. Leben und Natur sind dabei die zentralen Themen. So wird die Installation von 10 Erdbildern, in die Reliquien unserer Zivilisation eingefasst sind, ergänzt. Diese Überreste verweisen auf das Hinter – sich - gelassene, das Vergangene. Simultan assoziieren die Risse der ausgetrockneten Erdbilder die Abwesenheit von Wasser, von Leben. Das verwendete Material wird genutzt um kosmische und geistige Kräfte ins Visuelle zu übertragen, um das Unsichtbare sichtbar zu machen.

Gerade weil sich die moderne Kunst in einer metaphysischen Krise befindet wagt sich der Künstler an grundlegende Fragen der menschlichen

Existenz. Ist das Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Religion am Anfang des 21. Jahrhunderts fremder denn je ist, nimmt doch die Zahl temporärer Ausstellungen in sakralen Räumen allein wegen der ihnen anhaftenden sakralen Atmosphäre stetig zu. Raymond Thelen jedoch wählt für seine Inszenierung bewusst einen white cube, einen neutralen, weißen Raum, der die poetische Kraft der Installation besonders zum Tragen bringt. Zwar setzt die Installation Tempel des Ich statt neuer künstlerischer Techniken bewusst archaisches Material wie Lehm, Öllichter und Weihrauch ein, greift aber auf keine eindeutige Ikonografie zurück. Sie ist frei von besetzten Inhalten, obwohl sie intuitiv Assoziationen beim Betrachter hervorruft und bedient. Der Betrachter kann und soll kreativ mit seinen Konnotationen und Assoziationen spielen. Keine Religion wird explizit angesprochen. Stattdessen spiegelt die Installation die Gleichzeitigkeit verschiedener Welten, Zeiten und Mythen wieder, in der jeder Einzelne seinen Platz definieren muss. Die Auseinandersetzung des Künstlers mit Grenzwertigkeiten beinhaltet nicht den Versuch einer eindeutigen Welt-Erklärung. Raymond Thelen setzt vielmehr eine sinnliche gesteuerte Anregung in Gang, die das kognitive Wissen mit einbezieht, um den Betrachter auf eine Reise zu sich Selbst, zum Tempel des Ich einzuladen. Dabei werden beide Grundpositionen menschlichen Seins, das Gefühl und der Verstand bedient. So kann der Betrachter mittels intellektueller Überprüfung vorgefertigter Normen und Strukturen eine radikale Befragung seiner religiösen Vorstellungen vollziehen. Gleichzeitig vermittelt die Installation eine sakrale Erhabenheit, was die besondere Qualität der Arbeit ausmacht.

Dr. Marion Opitz

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