Raymond Thelen
Seit seiner Zeit an der Düsseldorfer Kunstakademie (1984–87) setzt sich Raymond Thelen immer wieder mit dem Thema der Konstruktion und Dekonstruktion auseinander. Ging es bei den Konstruktivisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts um den Einfluss und die Auseinandersetzung mit den damals neuen technischen Errungenschaften in der Bildende Kunst, so stellt Raymond Thelen die Konstruktion eines Bildraumes oder einer Skulptur die totale Dekonstruktion oder Auflösung gegenüber. Bei seinen Serienarbeiten enden die Werke mitunter in der totalen Auflösung. Bestes Beispiel ist der frühe Zyklus Partitur in neun Bildern aus dem Jahre 1985. Hier geht es um Auflösung im reinsten Wortsinn: zunächst wird ein informeller Bildraum aufgebaut (Bild I/II), mutwillig zerstört (Bild III-IV), konstruktiv verdichtet (Bild V), minimalisiert (Bild VI–VIII) um in zwei Linien zu enden (Bild IX). Ausgangspunkt der Serie war die Experimentierfreudigkeit von Thelen im Umgang mit den technischen Möglichkeiten der Radierung. So wurden verschiedene Radier- bzw. Ätztechniken auf immer derselben Zinkplatte ausprobiert. Durch ständige Ätzungen wurde die Platte zerstört und die Strukturen auf ein Minimum reduziert. So steht dieser Zyklus Partitur in neun Bildern ganz in der Tradition des Konstruktivismus, der in der informellen Kunst weiterlebte und vor allem in der Minimal Art der 1960er Jahre erneut formgebend wurde. Wie der Titel vermuten lässt, ist er nach Vollendung zur Vorlage einer Partitur geworden.
Die Grafiken, die seit 2006 entstanden sind, nehmen den Grundgedanken des Zyklus Partitur in neun Bildern wieder auf. Allerdings in antithetischer Position: aus konstruktivistischen Grundelementen entwickeln sich informelle Formen.
Seit 2005 arbeitet Raymond Thelen auch mit dem Material Glas, wobei das Material stets als dreidimensionales Objekt zum Einsatz kommt. Die Glasskulpturen aus den Jahren 2005–2006, die erstmals in der Ausstellung „Organisch – Anorganisch“ 2006 im Kutscherhaus Recklinghausen gezeigt wurden, drücken augenscheinlich das puristische Bestreben Thelens nach geometrischen Grundelementen aus. Kristalline Formen, die an Elemente der futuristischen Architektur erinnern, visualisieren die kulturelle Führungsrolle der Technik und spiegeln das Verständnis einer industrialisierten Welt zur „Natur“. Diese kristallinen Formen in den Glasarbeiten sind als Synonym für „geordnet“ zu verstehen und fungieren als Gegensatz zum Amorphen, zum Unregelmäßigen des Organischen.
Auch die neusten Arbeiten von 2014 mischen konstruktive und informelle Elemente, ein Grundgedanke, der sich durch das gesamte Werk des Künstlers zieht. So befindet sich auch hier das Konstruktive abermals in Auflösung. Beim Druck „Ansichten IV“ springt das Blattgoldblättchen sofort ins Auge. Als anorganisches Edelmetall scheint es aus dem Bildgefüge zu fallen, sprengt die ursprüngliche Technik der Radierung und bereichert sie durch Artfremdes. Laut Thelen selbst entsteht so eine neue Ausdrucksmöglichkeit. Gleichzeitig evoziert das auf die Grafiken aufgebrachte Gold beim Betrachter das Transzendentale und Metaphysische. Schließlich fand Gold in diesem Sinnzusammenhang schon immer in allen Kulturen Verwendung. Beispielhaft sei der Goldgrund in der Altkölner Tafelmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts genannt, aber auch in Werken moderner Künstler wurde Blattgold immer wieder eingesetzt. Denken wir nur an die gut vierzig Monogold–Tafeln (1959–61) von Yves Klein, die das Immaterielle thematisieren.
Entwickelten sich in den frühen Arbeiten von Raymond Thelen aus konstruktiven Formen informelle Bildräume, so stehen die späteren Arbeiten im eindeutigen Kontrast dazu. Sie zeigen die Auflösung des Informellen ins Konstruktive. Die aktuellen Grafiken scheinen nicht nur die Quintessenz aus den älteren Arbeiten zu sein, sondern gehen darüber hinaus: durch eine noch stärkere Minimalisierung der Farben und Formen entzieht sich dem Auge des Betrachters das Sujet immer mehr, es ist nur noch schemenhaft zu erahnen. Womöglich deutet sich hier eine vermeintliche Wendung in den aktuellen und zukünftigen Arbeiten von Raymond Thelen an, auf die wir gespannt sein dürfen.
Dr. Marion Opitz, Kunsthistorikerin